Leseprobe: Stille Post

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Ernst Keller versumpft nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst in Den Haag und rettet beherzt ein wertvolles Gemälde im Mauritshuis, Polizeioberkommissar Kneipp jagt einen Stalker, Engelchen hadert mit ihrem Job als Kriminalassistentin und Lokalredakteur Holger E. Meier wittert in einer geheimnisvollen Enthüllungsgeschichte die Chance seines Lebens. Gleichzeitig lässt sich Andrea Sieburg, der neue Stern in Deutschlands Autorenolymp, schon als kommende Ehrenbürgerin Bad Karlshafens feiern – sie wird aufgrund ihrer großen Erfolge von den Honoratioren von nah und fern hofiert. Als Holger E. Meier eines Tages tot am Fuße des Hugenottenturms aufgefunden wird, begibt sich Keller zurück in seine Heimatstadt an Weser und Diemel. Noch hat er keine Ahnung, auf was für ein gefährliches Spiel er sich einlässt, als er einen lukrativen Auftrag der erfolgreichen Schriftstellerin annimmt. Im Hintergrund sorgt eine Kette geheimer Nachrichten immer wieder für neue Verwicklungen. Die Situation eskaliert, als Andrea Sieburg von einer angesehenen Bürgerin öffentlich verdächtigt wird, ihre Bücher gar nicht selber geschrieben zu haben. Eine Bedrohung entsteht, derer die Freunde nur gemeinsam Herr werden können.

Leseprobe

Prolog

»Was machen Sie denn hier?«

Der Mann, der ihr den Rücken zudrehte, reagierte nicht und lief weg.

Sie schaute ihm hinterher. Sie wusste auf der Stelle ganz genau, was nun zu tun war: »Es ist besser, wenn keiner etwas von diesem Besucher weiß.« Sie ging zurück ins Haus.

1

Ernst Keller betrachtete Das Mädchen mit dem Perlohr­ring, als er durch lautes Gebrüll aus seinen Gedanken an Scarlett Johansson gerissen wurde. Den Film über dieses berühmte Bild von Johannes Vermeer mit der ebenso be­kannten wie hübschen Schauspielerin hatte er vor Jahren im Fernsehen angeschaut – nun stand er im Mauritshuis in Den Haag vor dem Original. Grund der Unruhe war ein circa dreißig Jahre alter Mann in einem langen Man­tel, der unmittelbar auf ihn zustürmte. Keller dachte bei dem Outfit sofort an Inspektor Columbo. Zwei der Wach­leute folgten ihm in ungefähr drei Meter Entfernung. Er hielt etwas in der Hand, das nach erster instinktiver Ein­schätzung wie eine Spraydose aussah. Gleich würde Co­lumbo an ihm vorbeilaufen, er hatte nur noch den Bruch­teil einer Sekunde Zeit, um zu entscheiden, ob er eingriff oder nicht.

Columbo war gerade im Begriff, ihn knapp zu streifen, als der Ex-Polizist sein Bein bewegte. Er rammte ihm sein Knie seitlich mit voller Wucht in den Magen. Sie fie­len zu Boden, der Mann vor Schmerzen, Keller aufgrund der Wucht des Aufpralls. Keine zwei Sekunden später waren schon die beiden bewaffneten Wachleute bei ihnen, die sie zunächst recht grob voneinander trennten. Wäh­rend sie Columbo mit einem eisernen Griff auf dem Bauch liegend fixierten, wurde Keller nur an die Seite ge­zogen. Zwei weitere inzwischen eingetroffene Muse­umsangestellte räumten den Saal, er war nun mit dem Tä­ter und vier Wachleuten allein im Raum. Er sah, wie der Mann zu schimpfen anfing und irgendwie auf ihn zu zei­gen versuchte. Wollte er etwa den Verdacht von sich auf Keller lenken? Der Ex-Polizist schloss in stiller Verzweif­lung die Augen.

2

Hansgünther Gehrke strich zärtlich den Streifen Papier glatt, den er soeben mit der Präzision eines Chirurgen bei einer Blinddarmoperation aus der aktuellen Ausgabe der Hofgeismarer Allgemeinen herausgetrennt hatte. An der Wand seines Kultraumes – so nannte er ihn gerne – hatte er dafür bereits Platz geschaffen. Sie war über und über mit Zeitungsausschnitten, Fotos, Kopien von Beiträgen aus Hochglanzillustrierten sowie dem ganzen Stolz seiner Sammlung, einer hinter Glas gerahmten Autogrammkarte von Andrea Sieburg, behängt. Vorsichtig heftete er mit selbstklebenden Strips den neuen Schatz dazu. Noch ein­mal strich er zärtlich über die papierenen Wangen der at­traktiven Brünetten, während im Hintergrund auf seinem Lieblingssender hr4 der neueste Hit der berühmten Schlagersängerin Frein Schleehe lief.

Hansgünther ging an die Kommode seiner Großmutter und holte einen Schuhkarton aus dem unteren Fach – die Zeit war gekommen für das tägliche Ritual, das er immer pünktlich um sechs Uhr abends ausführte: Er öffnete den Karton und nahm ein mittlerweile abgegriffenes Klei­dungsstück – ein dunkelblaues Höschen – in die Hand. Er drückte den Hauch von einem Stoff zusammen, dann roch er daran. Wieder wurde er rot. Der Geruch der Frau war jedoch längst verflogen. »Ich muss also noch einmal in den Himmel.« Hastig legte er das Unaussprechliche hin­ein, schloss den Schuhkarton und stellte ihn wieder zu­rück. Er nahm einen zweiten Karton heraus, der über und über mit Fotos gefüllt war. Er schaute sich die Aufnah­men genau an. Sie zeigten jedoch keine Nahaufnahmen seines Schwarmes, sondern Details ihres Hauses – von seinem Schlafzimmerfenster hatte er es immer direkt im Blick. Freudig erregt wurde ihm bewusst, dass er ihr schon bald wieder einen Besuch abstatten würde.

3

»Wie sind meine Verkaufszahlen heute?« Andrea Sieburg ließ dabei einen roten Spitzen-BH um den Zeigefinger ih­rer rechten Hand rotieren. Sie bellte diese Frage in Rich­tung der Frau, die soeben das rosarote Schlafzimmer der Starautorin betreten hatte.

Elli Grünkirchs Blick fiel auf ihre lediglich mit Slip und Hemdchen bekleidete Chefin mit den langen brünetten Haaren. Es war jeden Morgen das Gleiche, immer war sie nur an den Fakten interessiert. Kein freundliches Wort, kein einziges.

Sie ballte die Faust – nicht zum ersten Mal.

»Also, Frau Grünkirch, wird’s bald? Ich brauche gute Zahlen, um heute Vormittag kreativ arbeiten zu können.«

»Amazon läuft gut, iTunes ebenfalls, Thalia liegt noch nicht vor.«

»Für was bezahle ich dich eigentlich?«

Elli schwieg, es war besser, wenn sie jetzt keine Antwort gab.

»Irgendwelche Verabredungen heute Vormittag?«

»Ja, um elf Uhr hast du ein Gespräch beim Bürgermeister. Es geht um die Wohltätigkeitslesung im Carolinum nächste Woche.«

»Termin absagen, ich muss arbeiten.«

»Wird gemacht.«

»Übrigens, Elli, ist mein Paket mit den Heftromanen schon da?«

»Ja, genau wie die Regionalkrimis, die du bestellt hast. Sie sind einen Tag früher gekommen als erwartet.«

»Prima, danke. Dann wird das ein wahrhaft kreativer Tag werden.«

Elli grinste säuerlich, wusste sie doch, was Andrea Sie­burg damit meinte.

»Und jetzt geh, ich will mich weiter anziehen und dann in Ruhe frühstücken.«

Da war ihre Schwester aber bereits aus der Tür. Einige Sekunden später jedoch öffnete sie sich erneut, und Elli steckte nochmals den Kopf ins Zimmer: »Ich bin die nächsten Stunden in Hofgeismar.«

*

Wenige Minuten später saß Andrea Sieburg in ihrem Lieblingsstuhl am Fenster und nippte an einer Tasse heißem Tee. Dabei blätterte sie in einem Heftroman mit dem Titel Die Aller-Leiche und grinste: »Gut. Da kommt mir doch glatt wieder eine neue Idee.«

Auf dem Tisch lagen ungefähr zehn weitere Heftchen, das zweite Paket mit den Büchern stand noch unausge­packt auf dem antiken Stuhl neben der Anrichte. Den Re­gionalkrimis würde sie sich gleich nach dem Frühstück widmen.

Sieburg nahm den Hörer des modernen Telefons im Re­tro-Chic und wählte die Nummer, die sie sich rot im No­tizbuch angestrichen hatte. Ohne viel Zeit mit einer Be­grüßung oder gar der Frage nach dem Befinden ihres Ge­sprächspartners zu verschwenden, kam sie gleich zur Sa­che: »Kai, ich schicke dir nachher eine Liste mit Buchti­teln, du weißt Bescheid. Danke.« Dann legte sie auf.

Sie warf den roten Spitzen-BH zur Seite – er landete ne­ben dem Bett. Das mit dem Anziehen hatte sie sich anders überlegt. »Lars!« Genüsslich fiel sie zurück aufs Bett und träumte von ihrem Besucher, den sie in gut zwei Stunden empfangen würde. Energie tanken nannte sie das insge­heim. Ihr kam der Gedanke in den Sinn: »Wie nennt sich eigentlich die männliche Form einer Muse?« Sie konnte diese Frage jedoch nicht beantworten.

4

»Wie gut, dass mein Neffe so versiert mit Computern um­gehen kann.« Die Frau grinste zufrieden, als sie die Nachricht sah, dass alles so erledigt worden war, wie sie es besprochen hatten.

*

»Och Holgi, kommst du jetzt ins Bett?«

»Ich brauch noch ein bisschen, ich bin da an einer ziem­lich heißen Sache dran.«

»Mach endlich Schluss, alles, was du im Internet findest, kannst du auch bei mir haben!«

»Morgen Baby, versprochen.«

»Müssen wir uns jetzt schon für unser Liebesleben verab­reden?«, rief sie.

Sicher schmollte Engelchen, wie immer in solchen Situa­tionen. Der im anderen Zimmer am Computer arbeitende Holger E. Meier konnte auf derartige Befindlichkeiten im Augenblick jedoch keine Rücksicht nehmen. Morgen, da hatte er frei. Da würde er richtig viel Zeit für seine kleine Maus haben.

Er schaute nun bereits ungefähr zehn Minuten gespannt auf den Bildschirm. Immer wieder las er diese unge­wöhnliche E-Mail. Nicht, dass er nicht regelmäßig anonyme Nachrichten erhielt – im Schnitt jede Woche eine. Sie alle enthielten in den Augen der Absender sensa­tionelle Neuigkeiten, die ein Lokalreporter doch unver­züglich aufdecken müsste. Manchmal hatte Meier das Gefühl, dass die Leute, die ihre Geheimnisse bei ihm ab­luden, in früheren Zeiten gute Blockwarte gewesen wä­ren. Diesmal jedoch war die Geschichte richtig heiß – wie hätte er sonst der Versuchung widerstehen können, sich zu der sich in ihrem Negligé auf dem gemeinsamen Bett räkelnden Herta Engel zu legen.

Im Betreff stand nur Wichtige Informationen – vertrau­lich, wie so oft in den Mails, die er empfing. Heute aber, das spürte er sogleich, war es anders: Dieses Mal würde eine ganz große Sache werden. Er las sie noch einmal:

Sehr geehrter Herr Meier,
es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass die be­kannte Autorin Andrea Sieburg in Wahrheit eine gemeine Betrügerin ist. Wir sollten uns treffen! Weitere Informa­tionen folgen.
Freundliche Grüße, ein besorgter Bürger

Da sollte ich mal jemanden fragen, der sich mit so etwas auskennt, dachte er bei sich. Er blieb noch einen Moment sitzen, dann öffnete er Neue Nachricht und schrieb eine Mail an einen seiner besten Informanten.

5

Würde es nach den finsteren Blicken der Wachleute ge­hen, so sah sich Keller schon als Protagonist einer Good-Cop-Bad-Cop-Show in einem Verhörraum sitzen. Und das ihm, der noch vor gut vier Monaten selbst ein ganz passabler Polizist gewesen war! Er wurde zwar nicht fest­gehalten, jedoch durfte er den Raum nicht verlassen, und der zweite Uniformierte ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Als er sich noch fragte, ob er wohl in die Bundes­republik ausgeliefert werden könnte, erhellte sich Kellers Gesicht: Doktor Jasper van der Kamp sprach mit der Mu­seumsangestellten, die den Zugang zum Saal verstellte, und wurde danach hineingelassen. Sein wütender Blick machte ihm jedoch umgehend bewusst, dass er nun auf alles gefasst sein musste.

Doktor Jasper van der Kamp steckte den Ausweisbadge in die Hemdtasche zurück. »Mensch, Ernst, was machen Sie denn schon wieder? Man kann Sie wohl nie allein las­sen!« Er fuhr fort: »Dreimal«, dann wiederholte er diese Zahl, »dreimal habe ich Sie bereits von einer Polizeistati­on abholen müssen.«

Keller wollte ihm etwas entgegnen, kam jedoch nicht zu Wort.

»Das erste Mal, weil Sie mit dem Auto ein Fahrrad ge­rammt haben und nicht aufhören konnten, den Fietser auch noch zu beschimpfen. Das zweite Mal, als Sie aus dem Restaurant in Kijkduin geworfen wurden und nicht gehen wollten, und das dritte Mal, als Ihnen der Mann mit dem Handy in der Hand vor das Fiets gelaufen war. Was haben Sie heute wieder angestellt?«

»Gut, dass Sie mich auch endlich mal zu Wort kommen lassen.« Keller konnte ja den Ärger seines niederländi­schen Freundes nachvollziehen, heute jedoch war es aber ganz anders, an diesmal war er der Gute – er hoffte es zu­mindest.

»Ich habe diesen Mann dort drüben davon abge­halten, eines der Vermeer-Bilder mit einer Farbsprühdose zu zerstören.«

Van der Kamp schaute zur Wand, wo die Sprühdose nach dem Zusammenstoß hingerollt war. Keller ging inzwi­schen zuversichtlich davon aus, dass Doktor van der Kamp als Vorsitzender des Rates der Vrienden van het Mauritshuis einigen Einfluss besaß und ihn vielleicht hier herausholen konnte.

Sein Freund sprach lange mit dem Wachmann, dann kam er mit einem Lächeln auf den Lippen zurück.

»Was passiert nun?«

»Wir warten.«

Es verging ungefähr eine weitere Viertelstunde, als eine Frau in einem blauen Kostüm mit einem Schrank von Mann erschien, bei dem es sich eindeutig um einen Leib­wächter handelte. Der Doktor schien auch sie recht gut zu kennen. Sie unterhielten sich kurz, dann sah er die beiden auf sich zukommen – der Bodyguard folgte in geringem Abstand.

»Ernst Keller, darf ich Ihnen die Ministerin van Onderwi­js, Cultuur en Wetenschap – wie sagen Sie dazu … die Kulturministerin –, vorstellen?« Er wandte sich der Frau zu. »Mevrouw Minister, mijn vriend Ernst Keller uit Duitsland.«

Die Ministerin streckte ihm die Hand entgegen und sagte etwas, was er jedoch nicht verstand.

Van der Kamp übersetzte: »Ich danke Ihnen im Namen des Königreichs der Niederlande ganz herzlich für Ihre heroische Rettungstat. Sie haben das Land vor einem un­schätzbaren Verlust bewahrt. Wir bitten Sie aber mit aller Freundlichkeit, bis zum Abschluss der Ermittlungen die Stadt nicht zu verlassen. Doktor van der Kamp hat sich für Sie verbürgt, bitte bringen Sie meinen alten Freund nicht in Schwierigkeiten.«

Der Ex-Polizist entgegnete nur ein »Dank je wel«. Es fiel ihm nicht auf, dass er gerade eine Ministerin geduzt hatte.

Der Doktor grinste, und Keller fragte: »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein, alles ist gut.«

Als Keller sich umblickte, waren die Ministerin und ihr Gorilla bereits wieder verschwunden. Er klopfte van der Kamp auf die Schulter. »Ich brauche jetzt einen Drink, darf ich Sie einladen?«

»Gerne, gehen wir doch gleich in die Brasserie des Mau­ritshuis, die haben leckere Martinis.«

»Ich folge Ihnen unauffällig.«

Dann sprach van der Kamp aus, was ihm auch schon län­ger hartnäckig durch den Kopf ging: »Sie sollten endlich wieder als Polizist arbeiten.«

Keller hatte es lange nicht zugeben wollen, doch vermiss­te er seinen alten Polizistenjob mehr, als er sich einge­stand. Wie gesagt, vier Monate waren seit der spektakulä­ren Befreiungsaktion von Selma vergangen – eine Zeit, die der Ex-Kriminaloberkommissar hauptsächlich mit seiner Freundin Kerstin sowie im Haus seiner Eltern in Bad Karlshafen verbracht hatte. Dann war er der Einla­dung von Doktor Jasper van der Kamp gefolgt, bei ihm in Den Haag auf andere Gedanken zu kommen. Aber selbst hier musste der Doc ihm auf die Sprünge helfen: »Bevor Sie wieder den ganzen Tag in der Wohnung rumhängen, Wein trinken und in Selbstmitleid schwelgen, sollten Sie wenigstens mal das schönste Museum der Welt besu­chen.«

Wie es das Schicksal wollte, hatte van der Kamp ihn mit dieser Empfehlung wieder auf den Geschmack gebracht, vielleicht doch nochmals als Ermittler zu arbeiten – es musste ja auch nicht unbedingt bei der Polizei sein.

*

Er sah die neue Nachricht und dachte bei sich: »Es geht doch nichts über gute Informanten.«

6

Hansgünther starrte auf das Regal – es war sein ganzer Stolz. In ihm befanden sich alle Bücher seiner Lieblingsschriftstellerin, insgesamt waren es mittlerweile fünfundzwanzig – von ihr geschrieben in nur gut zwei Jahren. Er verdiente in dem Teilzeitjob bei der Baufirma nicht viel, doch für den neuesten Band von Ihr waren immer noch ein paar Euros übrig.

Um die Angebetete besser bewachen zu können – so nannte er das –, war er erst im letzten Jahr umgezogen. Heute hatte er von seiner Wohnung im dritten Stock aus einen guten Blick auf das ungefähr zweihundert Meter entfernte Anwesen der Frau. Sie wohnte in einer großen Villa – in einem Ort auf dem Land immer noch recht günstig zu bekommen. Und dass sie Geld hatte, das wusste Hansgünther. Erst letzten Monat hatte sie mir nichts, dir nichts dreitausend Euro gespendet, um neue Bänke für den Stadtwald zu beschaffen. Bescheiden, wie sie war, hatte sie damals erklärt, dass sie ja selbst am meisten von den Sitzgelegenheiten profitiere, da sie so gerne den Weg zum Hugenottenturm hinaufwandern würde. Hansgünther bewunderte ihre Großherzigkeit. In der Stadt munkelte man sogar, ob sie nicht damit liebäugelte, beizeiten zur Ehrenbürgerin ernannt zu werden, um sich noch besser im Licht ihres Erfolges sonnen zu können. Andere sprachen offen von einer nach ihr benannten Straße. 

Die waren alle nur neidisch. Für ihn war sie eine Göttin – eigentlich unerreichbar und doch manchmal so nah. Nur ihren Liebhaber, den würde er am liebsten sofort ins Gras beißen lassen. 

Hansgünther nahm das Fernglas in die Hand und richtete seinen Blick auf das Haus der Schriftstellerin – die Vorhänge waren noch vorgezogen, sie war demnach nicht da. Enttäuscht setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett. Er schaute auf seine Uhr, es war halb neun – genau ihre Zeit. Seine eigene Arbeit begann jeden Morgen um neun, da hatte er darauf bestanden. Sein Chef war diesem Wunsch nur mit sehr großem Widerwillen nachgekommen, da er der Meinung war, dass morgens um sieben die beste Zeit sei, um den Arbeitstag zu beginnen. Aber Hansgünther argumentierte damit, dass er als Teilzeitkraft auf diese Weise immer mit seinen vollzeitarbeitenden Kollegen Feierabend machen könnte. Das wäre doch auch schon was. Schließlich konnte er seinen Chef überreden, überzeugt hatte er ihn sicher nicht. 

Jeden Morgen um halb neun nahm sich Hansgünther also sein Fernglas und richtete es auf die Villa. Meist wurde er nicht enttäuscht, und sein Engel zeigte sich – in der Regel knapp bekleidet – am Schlafzimmerfenster. Er duschte anschließend schnell, packte seine Sachen und setzte sich in seinen kleinen Seat; oft war er dann erst kurz nach neun an der Arbeit. Da er jedoch fast immer direkt zu der tagesaktuellen Baustelle irgendwo in der Gegend fuhr, bekam sein Chef die geringe Verspätung gar nicht mit. Und seine Kollegen hielten dicht, darauf konnte er sich verlassen. 

Er fragte sich gerade, ob er noch länger warten sollte, möglicherweise kam sie ja gleich zurück und würde sich wieder in ihren roten Spitzen-BH werfen. Noch ganz in seine erotischen Gedanken vertieft, wurde er vom Klingeln der Tür aufgeschreckt. Vielleicht war es der Postbote mit einem Päckchen, in dem sich der brandfrisch erschienene Andrea-SieburgKalender befand? Hansgünther legte das Fernglas zur Seite. Er ging die Treppe herunter in den kleinen Flur und öffnete die verzogene Kunststoffhaustür. 

Er schaute nach links und rechts, doch niemand war zu sehen. Er nahm schon Schwung, um die Haustür mit viel Kraft wieder zu schließen, als er unter der Fußmatte einen Briefumschlag hervorgucken sah. Hansgünther bückte sich, nahm den Umschlag in die Hand und wunderte sich: Keine Adresse, kein Absender – nur ein mit krakeliger Handschrift geschriebenes Für Hansgünther.

7

Engelchen hatte schon bessere Zeiten erlebt: Ihr machte immer noch der Abgang von Ernst Keller zu schaffen, ihrem ehemaligen Chef und inzwischen auch Freund und Vertrauten. Einen Monat war er nun bereits in Holland, genauer gesagt in Den Haag. Und exakt so lange hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Tief im Inneren ärgerte sie auch, dass er Holger – ihrem derzeitigen Lebensgefährten und seinem einstigen Erzfeind – eine Postkarte geschickt hatte. Was sie am meisten störte, war, dass noch nicht einmal ein Gruß für seine langjährige Assistentin dabei abgefallen war. 

Als Nächstes war da ihr Job als Kriminalassistentin. Als sie damals nach Selma gesucht hatten, war Kriminalkommissar Anton Berg einfach nur ein Polizist und Kollege gewesen, der gute Arbeit leistete und vor allem mitdachte. Inzwischen, nach Kellers Entlassung, war Berg zum Kriminaloberkommissar befördert worden und übernahm damit auch das Kommissariat. Am Anfang lief es noch recht gut, doch dann war da dieser Fall mit der Kassler Prostituierten gewesen, die an der Wolfhager Straße von einem Unbekannten angefahren worden war. Als die Sache sich in die Länge zog, wurde auch Berg zunehmend ungemütlicher –, und dieser Zustand hielt bis heute an. Wie oft hatte sie sich in den letzten Wochen Ernst Keller zurückgewünscht – was bei seinen dauernden Sticheleien und komischen Angewohnheiten echt etwas heißen wollte. 

Aber ihr Unglück war anscheinend noch nicht vollkommen. Sie lebte seit einigen Monaten mit Holger und zeitweise auch mit dessen Tochter Selma in einem schönen alten Bauernhaus in Stammen – so weit, so gut. Es ist sicher immer eine Herausforderung, mit einer Polizistin zusammenzuleben. Aber die Kombination einer Polizeibeamtin mit dem Lokalredakteur einer Regionalzeitung? Während sie Verbrecher fing, war er auf der Jagd nach Sensationen zwischen AfD und Zwergkaninchen. Auf Dauer, das wurde ihr zunehmend klarer, war das wirklich anstrengend. Und damit nicht genug: Holgi und sie hatten sich bislang immer alles erzählt – solange es nicht unter irgendeine Schweigepflicht fiel. In den letzten Tagen jedoch war ihr Holgi richtig einsilbig geworden – als schleppe er ein furchtbares Geheimnis mit sich herum, das er niemandem erzählen durfte oder wollte. Scheinbar übervorsichtig schirmte er sein Tablet vor ihr ab, sobald die Gefahr bestand, dass sie einen Blick darauf werfen konnte. Selbst geschicktes Ausfragen nach den neuesten polizeipsychologischen Erkenntnissen hatte sie nicht weiter gebracht. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass das nur eine Phase war. 

Einmal, morgens, als Holgi unter der Dusche stand, hatte sie mit wirklich schlechtem Gewissen einen Blick in seinen roten Terminkalender geworfen. Der Journalist hatte ihn, leichtsinnigerweise, auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen. Taubenzüchter, Bürgerverein, Schlachteessen einer Partei; alles keine aufregenden Sachen – bis auf den Abendtermin am Mittwoch der folgenden Woche: H., 22.00 Uhr. 

Mehr stand da nicht.

 

Hier muss die Leseprobe leider enden. „Stille Post – Kellers nächster Fall?“ ist ab Februar 2017 als Taschenbuch oder als eBook (epub, mobi) erhältlich. Weitere Hinweise hierzu erhalten Sie in der Bibliographie.

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