Die musikalische Sozialisation von Kommissar Keller, Teil eins

Kennt Ihr das noch? Dein Lieblingslied läuft im Radio, beispielsweise in der Mittagsdiskotheke von HR3 und Du hast es endlich geschafft, den genialen Anfang des tollen Songs rechtzeitig aufzunehmen. Du freust Dich einfach. Endlich! Doch dann, Werner Reinke ist am Mikrofon und spricht wie so oft in den Schluss des Titels rein, bevor Du die „Pause“-Taste Deines Universum-Radiorekorders drücken konntest. Du schmeißt die Hülle Deiner C-60-Compakt-Kassette von BASF in die Ecke und ärgerst dich. Nun hoffst Du, dass es Dein Lieblingssong endlich in eine der Radiohitparaden schafft, die Du regelmäßig hörst.

Leser von „Das gemeingefährliche Jahrgangstreffen“ werden sich vielleicht daran erinnern, dass Kriminaloberkommissar Ernst Keller selig an Kasse des Helmarshäuser Cafés steht und nur aus dem Grund ein großzügiges Trinkgeld gibt, weil gerade „I’m alive“ vom Electric Light Orchestra“ im Radio läuft – Kellers absolutes Lieblingslied.

Damals – wir schreiben die Zeit um 1979/1980 – war ich begeisterter Radiohörer. Ich kannte jede Hitparade und habe auch immer fleißig am Kassettenrecorder, der Kompaktanlage bzw. am Tapedeck gesessen und alles aufgenommen. Das Interesse an der Musik kam schon viel früher: 1974 mit einem alten Plattenspieler und dem Röhrenradio Philips Philetta. Meine erste Single war Paloma Blanca von der George Baker Selection – diesen Song habe ich als Siebenjähriger stundenlag und zum Ärger meiner Familie hoch und runter gespielt. Doch dann kam ABBA. Ich weiß noch, dass ich oft über Mittelwelle auf 1440 kHz die Hitparade von RTL gehört habe, die immer Sonntags von zwei bis vier gesendet wurde. Und was war 1976 auf Platz eins? „Dancing Queen“ von ABBA. Könnt Ihr Euch noch an dieses Auf und Ab sowohl von Lautstärke, Ton und Störgeräuschen erinnern – und alles gleichzeitig? Furchtbar. So etwas kann man jemanden, der heute eben mal SWR 3 auf sein Handy streamt, nicht mehr vermitteln.

Aber zurück zu den Hitparaden: Als erstes war da also dieser Radiorekorder von Universum, ein Elektronik-Artikel der Firma Quelle. Das Manko an diesem Gerät war nur, dass die Aufnahmetaste schnell kaputt war und man diese beim Aufnehmen immer gedrückt halten musste. In dieser Zeit hörte Keller dann nicht mehr RTL, sondern vor allem die „Internationale Hitparade“ von Werner Reinke auf HR 3. Für ihn einer der genialsten noch lebenden Musikkenner. Ein anderer mit legendärem Ruf ist leider bereits verstorben – Mal Sondock. „Mal Sondocks Hitparade“, immer Mittwochs um 20.05 Uhr auf WDR 2. Diese Sendung kannte wirklich jeder, wenn man im Sendegebiet auch danach fragte. Zunächst Samstags, dann Montags lief die „Schlagerrallye“. Sie lief zunächst auf WDR 1 (ja, den gab es mal), dann auf WDR 2. Keller erinnert sich in „Mit der Ferkeltaxe durch das Diemeltal“ noch gerne an die „Ewigenbesten Hitparade“ dieser Sendung, die zunächst souverän angeführt wurde von „Don’t bring me down“ vom Electric Light Orchestra. Auf Platz 2 lag „Hotel California“ von der Eagles, auf Platz 4 „School“ von Supertramp. Danach war gefühlt jeder dritte Titel von Queen.

Doch was ist das Besondere an dieser Musik aus der Zeit 1979/1980? Ich persönlich verbinde damit eine enge Freundschaft an einen guten Freund, der ebenso Musik-verrückt war, wie ich und den ich leider aus den Augen verloren habe. Fußball spielen, Zelten im Garten, Lagerfeuer im Wald – dazu Pink Floyd, Electric Light Orchestra, Supertramp, AC/DC, Police und wie sie alle hießen. Kommissar Keller findet daher für jede Situation den richtigen Song aus dieser Zeit: Fährt er zum „Ober-Öko“ so läuft „Fire on the Water“ von Orlando Riva Sound, seine Freunde wetten, ob „Video killed the Radio Star“ der erste Song auf MTV war, ist er einsam, so spielt sicher „So lonely“ von The Police. Und so weiter und so fort.

1981 bekam Keller dann seine erste Stereoanlage – passender Weise eine Kompaktanlage der Firma Schneider. Sie bestand aus Radio, Dual-Plattenspieler und einem Kassettendeck. Das durch ständiges Laufen – Aufnehmen – Laufen – Aufnehmen versklavte Kassettendeck war natürlich als erstes kaputt. Unsere Lieblingssorte an Leerkassetten waren die Maxell XL-II S, 65 DM für zehn Stück. Und nach einer langen Aufnahmesession bis zum kommenden Morgen um halb sechs konnte man schon bald wieder daran denken, wie man das nächste Zehnerpack finanzierte. Von dieser Anlage hat Keller zu Angelikas Unwillen immer noch die Boxen – sie liegen auf Angelikas Dachboden in ihrer Kasseler Wohnung.

Meine älteste Aufnahme ist die LP (= Langspielplatte; diese zerbrechlichen, schwarzen Dinger aus Vinyl) „Vienna“ von Ultravox. Diese Platte habe ich von meinem alten Kumpel Werner ausgeliehen (oder ausleihen lassen) – die Kassette habe ich heute noch – neben gut 200 anderen.

Verwirrt wegen der ständigen Perspektivwechsel? Ich habe nur das getan, was Autoren gemeinhin tun – ihrem Protagonisten persönliche Erfahrungen und Empfindungen mit auf dem Weg geben. Nur machen sie es sonst nur subtiler oder gar unbeabsichtigt.

Ich wollte Kommissar Keller mit seiner Leidenschaft für die Musik etwas von mir mitgeben, etwas sehr persönliches. Auch bei mir gibt es für bestimmte Personen und Situationen „den“ Song. Höre ich diesen Song, so denke ich an diesen Menschen oder eine bestimmte Situation in meinem Leben. Vermutlich haben viele ihren eigenen „Soundtrack des Lebens“ im Kopf, nur ist vieles wahrscheinlich bereits in Vergessenheit geraten.

Fortsetzung folgt – wir haben ja noch nicht den Motor des Kenwoodtapes durch simple Überlastung ruiniert und Nenas „Leuchtturm“ auf BR 3 empfangen.

For you*, Christian Schneider

*Manfred Manns Earthband: For you, 1980

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